Lifeart Petra Eischeid

Berichte und Veröffentlichungen

Petra Eischeid: Theater als "heilende Kunst", Reichenau 2002

Petra Eischeid: Phillipinscher Stockkampfkunst mit "nichtvermittelbaren Jugendlichen" im Ruhrpott

Petra Eischeid: Stockkampfkunst als Friedensarbeit, Konstanz 2005

 

Petra Eischeid

Theater als "heilende Kunst"

 

Ein Theaterstück für Kinder im Krankenhaus

Es ist einer jener langen Nachmittage in einem Krankenhaus, einem Kinderkrankenhaus. Und doch ist es heute für die Kinder ein ganz besonderer Nachmittag. Denn nicht oft kommt eine Theatergruppe zu Besuch. Der eigens für das Theaterspiel hergerichtete Raum verwandelt sich langsam in einen echten Theaterraum. Scheinwerfer, das Bühnenbild - ein Krankenhausbettchen mit der kleinen Paula,

das sich später in verschiedene Landschaften verwandeln wird, Paravans mit gelb-goldfarbenen Stoffen und dann die kleinen und großen Zuschauer. Teils kommen sie zu Fuß, teils werden sie in ihren Bettchen oder Rollstühlen in den Zuschauerraum gebracht. Auch ein kleiner Junge ist unter den Gästen. Er kommt auf seinem Traktor gefahren. Schaut sich etwas skeptisch, aber auch neugierig um und lässt sich dann von einer Krankenschwester überreden, für die Vorstellung zu bleiben. Ich erzähle dem Jungen, dass Paula noch schläft, gleich aber, wenn das Stück beginnt, wach werde. Er ist es auch, der später unbedingt mit der kleinen Paula - einer Puppe und Hauptdarstellerin des Theaterstück "Niquena - Ich bin auf dem Heimweg" - sprechen wird, sie kennen lernen möchte.


Diese eher außergewöhnliche Tournee nahm vor 4 Jahren mit der Vorpremiere im städtischen Kinderkrankenhaus Konstanz ihren Anfang. Prof. Dr. Schwenk unterstützte uns in 3 Jahren Stückentwicklung und machte es möglich, dass Endproben und Uraufführung in der Kapelle der Klinik in Konstanz stattfinden konnte. 1999 spielten wir dann erneut in Konstanz, in der Spiegelhalle des Stadttheaters. Seit damals touren wir durch Krankenhäuser, spielen an den verschiedenartigsten Orten und konnten so außergewöhnliche Erfahrungen mit außergewöhnlichen ZuschauerInnen machen.

Wir - das ist das LifeArt Ensemble, das in Unterstützung mit dem Förderkreis "Kinder zwischen Leben und Tod" das Stück entwickelte und aufführt.


Und - es war nicht immer leicht. Das Thema "Sterben" - wenn auch auf den ersten Blick nicht direkt zu erkennen und mit viel Witz, Poesie, Musik und Tanz umgesetzt, ist immer noch ein Tabu-Thema. Für unser Management, das in Köln seinen Sitz hat - war es immer schwer, an Aufführungsorte zu kommen. Waren wir dann erst einmal vor Ort, hieß es: "Hätten wir das gewusst. So ein schönes und einfühlsam-poetisches Stück…"

Das Theaterstück selbst erzählt mit Schauspiel, Tanz und viel eigens für das Stück geschriebene Musik, die Geschichte der kleinen Paula, die in einem Unfall ihren roten Teddy verloren hatte. Sie liegt nun schwerkrank im Krankenhaus und schreibt einen Steckbrief für ihren Teddy. Doch anstatt dass die Krankenschwester kommt, erscheint ein Schmetterling - Magister Mobilius, der sie mit auf eine Abenteuerreise ins "Land der Wolken" nimmt, mit auf die Suche nach ihrem Teddy. Im "Land der Wolken" muß Paula eine Reihe von Abenteuer bestehen, bis sie letztendlich dank der Unterstützung ihrer neu gewonnen Freunde zur Lichterkönigin gelangt. Diese überlässt Paula die Entscheidung, ob sie bleiben oder wieder zurückkehren will zu ihren Eltern, Opa und Benno. Eine Geschichte von Leben und Tod. Das Ende bleibt offen, wird als Frage den Kindern mitgegeben. Kindern, die selbst "zwischen Leben und Tod" stehen, Kindern mit lebensbedrohlichen Krankheiten - und, nicht zu vergessen, deren Angehörigen.

Wieso "heilendes Theater"?

Die Szenen im Theaterstück orientieren sich an den, von Frau Dr. Kübler-Ross beschriebenen Phasen, die ein Mensch mit einer lebensbedrohlichen Krankheit während seinem Krankheitsverlauf durchlebt: Verzweiflung und Wut, Hoffnungslosigkeit und Kampf, Loslassen und Akzeptieren der Situation oder aber - wenn es noch einen Weg gibt - sich und die Zeichen der Krankheit ver-stehen lernen und zu neuer Lebenskraft fin-den.
Durch die bild-hafte Sprache des Theaters fin-det die Botschaft Zugang zum Un-bewussten des Kindes. Ein Weg, der seit Jahrhunderten über Märchen und Mythen vollzogen wird.
So traut sich die kleine Paula im Theaterstück den Kampf mit dem bösen Lurch aufzunehmen. Sie traut sich damit ihre "Schatten" zu konfrontieren und schließt Freundschaft mit dem schrecklichen Monster, das tatsächlich vor ihr Angst hat. In diesem Moment verwandelt sich das Bedrohliche in den geliebten Teddy. Eine Initiationsgeschichte wie C.G. Jung sie nennen würde. Eine Selbsterkennung und Selbstfindung.

Im Folgenden möchte ich Ihnen ein paar Erfahrungen aus dieser Zeit wieder geben, damit Sie verstehen können, warum wir - das LifeArt Ensemble - das Stück als ergänzende therapeutische Möglichkeit ansehen oder zumindest als eine Möglichkeit zwischen Eltern und Kind über das "Sterben" ins Gespräch zu kommen.

"Das Mädchen mit dem Teddy"

Während einer Vorstellung in einer Rehaklinik verlässt ein ca. 4jähriges Mädchen nach der ersten Szene, in der Paula nach ihrem Teddy ruft, den Zuschauerraum. 2 Szenen später erscheint sie wieder gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Teddy. Sie bleibt gebannt bis zum Schluß sitzen und weicht uns bis zu unserer Abreise, auch während des Abendessens, nicht mehr von der Seite.

Die Mutter kam nach der Vorstellung zu mir und sprach mich auf das Verhalten ihrer Tochter an. Sie erklärte, dass wir in dem Stück genau das Thema der Tochter getroffen hätten. Ihre Tochter habe stets eine schreckliche Angst, dass ihr Teddy verloren gehen könne. Als Paula im Theaterstück ihren Teddy wieder findet, ist die kleine Tochter überglücklich. Sie hatten es beide geschafft: Paula und auch sie, die gleichsam mit Paula die Abenteuer durchlebt und bestanden hatte.
Nun möchte ich diese Situation aus einer analytischen Sicht betrachten. Der Teddy steht für die verlorengegangene Hoffnung, aber auch für das Herz und die Lebenskraft. So findet Paula am Ende zurück zu ihrer Lebenskraft. Das Verhältnis zwischen Paula und dem Teddy entspricht jedoch auch dem Mutter-Kind-Verhältnis. Paula als Mutter hat ihren Teddy, das Kind, verloren.
Wie wir aus vielen Jahren wissenschaftlicher Untersuchung im Feld der Entwicklungspsychologie wissen, leben Kinder oftmals die Ängste der Eltern aus. Betrachten wir also unter diesem Aspekt das Erleben und Verhalten des Kindes, lässt sich vermuten, dass die Tochter die Angst der Mutter, das Kind durch den Tod zu verlieren, spürt und im Spiel mit dem Teddy immer wieder inszeniert. Hier wäre vermutlich von Bedeutung, dass sowohl ein therapeutisches Gespräch mit der Mutter geführt werden könnte, aber auch zwischen Mutter und Kind von Wichtigkeit wäre, um Raum für das eigene Erleben im Krankheitsverlauf, für Hoffnungen und Ängste im Zusammenhang mit dem Thema "Leben und Tod" zu geben.
In unserer Vorarbeit zum Stück führten wir viele Gespräche mit Betroffenen. Es erscheint offensichtlich, dass die kranken Kinder oftmals weiter sind als die Eltern. Sie wissen oftmals, dass sie sterben müssen und vertrauen in den nahenden Tod, während die Eltern in großem Schmerz sind und - wie jeder nachempfinden kann - nur schwer das Kind loslassen können. Fachleute empfehlen über die Krankheitssituation zu sprechen, um Erlebnisse der Kinder zu integrieren und Raum zu geben für Sorgen und Schmerz, aber auch für Hoffnung und Kraft.

"Kinder wollen Flussfahrt spielen"

Bei einer der ersten Aufführungen, erzählte ein Arzt, dass die Kinder der Station auf die Frage hin, welche Szene sie am meisten gemocht hätten, antworteten: "die Flussfahrt". Die "Flussfahrt" ist eine Szene mit viel Spaß und Gesang. Ich sagte damals dem Arzt, dass ich vermute, dass diese Kinder eine Menge Lebensenergie spüren und riet ihm, mit den Kindern die Szene nachzuspielen, sie über das Spiel und die Freude zu stärken. Denn Lachen ist bekanntlich das älteste Heilmittel der Welt und Freundschaften erlösen seit eh und je von Einsamkeit und helfen aus schweren Situationen gestärkt herauszugehen.

"Ohne das Stück hätte ich es nicht so geschafft
nach dem Tod meines Kindes"

Eine Mutter rief mich etwa ein viertel Jahr nach einer Aufführung an. Sie erzählte, dass eine Woche zuvor ihr Sohn gestorben war. Ich war sehr bewegt über die Offenheit, die diese Mutter mir entgegenbrachte. Sie hatten schon lange mit dem Tod des Kindes gerechnet. Als der Sohn starb, war er bei seiner Lieblingsbeschäftigung gewesen. Er war in einem glücklichen Moment gestorben. Dies und das Erleben der Mutter, dass sie durch das Stück Hoffnung und Erleichterung für "das, was nach dem Leben kommen möge" erfahren hatte, stützte sie und gab ihr Kraft die Trauer um den Verlust des Kindes zu tragen. Sie bestand darauf, dass wir noch einmal bei ihnen spielen sollten, um auch anderen Eltern diese Erfahrung geben zu können.

Herr Prof. Dr. Schwenk aus der Kinderklinik Konstanz sagte einmal, nachdem ein Kind gestorben war, das über viele Jahre in der Klinik behandelt worden war, das jedoch im Moment im Sterben nicht loslassen konnte: "Wenn Kinder mit einer lebensbedrohlichen Krankheit nach so vielen Jahren immer noch Angst im Moment des Sterbens haben, dann haben wir etwas falsch gemacht. Wir müssen über den Tod sprechen lernen."

Unser Vorgehen mit dem Theaterstück ist verschieden. Manchmal bieten wir eine Nachbesprechung an, wobei die Zuschauer-Innen Fragen an das Ensemble stellen können. Auf Wunsch kann dies auch eine aktive Nachbe-sprechung sein im Sinne des "LifeArt Process®", einer kunsttherapeutische Methode, die mit dem Malen innerer Bider arbeitet. Hierbei malen Eltern und Kinder, was sie am meisten an dem Stück angesprochen hat, zeigen sich anschließend die Bilder und sprechen über das Gemalte. So formte sich nach einer Vorstellung ein riesiger Kreis. Ein Innenkreis mit Eltern und ein Außenkreis mit Kindern, die - ihre Bilder vor sich haltend - sich umkreisten und stolz das Gemalte zeigten und einander Fragen stellten und sich austauschten.

Viele Erfahrungen und Geschichten sammelten sich in 3 Jahren Tournee. Ob das Theaterstück vom Fachpersonal in den Krankenhäusern für ein Familiengespräch genutzt wurde, lag an den Kliniken selbst. Kinder und Eltern sprachen auf jeden Fall miteinander. Dies wurde uns nur zu oft im Nachhinein von den Eltern berichtet. Inwiefern das Stück nun wirklich Einfluß auf Genesung oder auf ein - nennen wir es - "friedliches Sterben" haben könnte? Wir hoffen es. Auf jeden Fall hat es stets den kleinen und auch großen ZuschaeurInnen eine Stunde Freude bereitet in einer Umgebung, die sonst meistens von medizinischen Untersuchungen und Medikamenten geprägt ist. Allein das, so glaube ich, ist der Aufwand wert.


Wir stehen nun im 7. Jahr seit der Entwicklungsphase des Theaterstücks. Wir haben vieles gelernt und auch das Stück fand immer wieder kleine Veränderungen.

In diesem Jahr liegt das Stück brach. Die Fördergelder, die es uns zu Beginn ermöglicht hatten, das Stück zu 80% zu schenken, sind ausgelaufen. Eine Aufführung kostet uns zwischen 1.250,- bis 1.500,-€ (ohne übernachtungskosten). Ein Tourneetag heißt aber: 9.00Uhr Abfahrt, Bühnenaufbau, Spielvorbereitung, Spielen, Bühnenabbau, Rückfahrt 1.00Uhr nachts. Also ein 16Stundentag bei 128,-€ Mindestgage pro Akteur. Die Kosten entstehen durch Lichtanlage, Transport, 4 Akteure, 1 Techniker, 1 Regie/Therapeutin und Management.

Und immer noch sind Kliniken und andere Ansprechpartner skeptisch, solange sie das Stück noch nicht gesehen haben. Ein Demo-Video soll die Angst nehmen. Doch der Etat von Krankenhäusern ist gering, was bedeutet, dass ohne Fördergelder ein Spielen so gut wie nicht möglich ist.

Und wie es aus dem Ablauf eines Tages ersichtlich ist, ist Theater ein "Fulltimejob", harte Arbeit und leider immer noch zu oft "brotlose Kunst".

Die Hoffnung: An andere Spielorte zu gehen. So gaben wir dem Stück einen neuen Titel: "Niquena - Abenteuer im Land der Wolken". Und ins "Land der Wolken" müssen wir ja alle einmal. Sollten wir uns da nicht so früh wie möglich damit beschäftigen und wie einst die alten Ägypter eine "Anleitung zum Leben und Sterben" geben!


Eins ist gewiss: Auch wenn wir nicht mehr spielen sollten, so hoffe ich, ein Kinderbuch mit Anhang für Erwachsene herauszugeben für all die kleinen ZuschauerInnen, die ihr Krankenhausbettchen nicht mehr verlassen können und die sicherlich gerne mit auf die Reise der kleinen Paule gehen würden. Ein neues Projekt, das ebenfalls Fördergelder benötigen wird.


Mein Fazit: Kunst und Theater kann heilen, wenn sowohl Akteure als auch Zuschauer bereit sind, sich auf einen Wandlungsprozess einzulassen, der uns tief in unserem innersten archetypischen Erleben berührt und uns erlaubt die Schatten des Lebens anzuschauen und zu integrieren. Theater hat die Mittel. Denn die Poesie von Tanz, Musik und Schauspiel vermag es auf sanfte Weise eine schöpferische Kraft zu geben, die mehr ist als nur "gute Kunst".

Und wenn die Ohren nicht mehr hören können, so tun sie es, wie ein alter Herr aus der Pflegeabteilung einer Klinik zum anderen beinahe tauben Mann sagte, als dieser immer wieder für alle Zuschauer hörbar danach fragte, was die Schauspieler gesagt hätten: "Guck doch einfach dem schönen Tanz zu!" Fotos: Rüdiger Maurer

 

Petra Eischeid ist Regisseurin/Schauspielerin, Ausdruckstherapeutin, Halprin Practitioner®

Petra Eischeid/LifeArt, Seestr. 44a, D-78479 Reichenau (Insel), Tel: 07534-998742,

LifeArt-PetraEischeid@online.de, www.lifeart-petra-eischeid.de


Petra Eischeid

Phillipinischer Stockkampfkunst
mit "nichtvermittelbaren Jugendlichen" im Ruhrpott

 

Der Ort des Geschehens Theateralltag im Consol Theater in Gelsenkirchen. Eine ehemalige Zeche, umgebaut als Theaterhaus für das ehemals Tourneetheater forum kunstvereint. Seit September 2001 "sesshaft" geworden in wundervollen Räumlichkeiten, die größtenteils unter Mitwirkung der KünstlerInnen umgebaut worden waren. Heute wird hier ein Kinder- und Erwachsenentheater aus den Sparten Tanz, Theater und Musik gezeigt, von denen bereits einige mit Preisen ausgezeichnet wurden. Engagierte Künstler und Künstlerinnen, von denen man wohl sagen kann, dass die Arbeit mehr als das "halbe Leben" ist.

In dieser bizarren Theater-Zeche geht es immer, d.h. wirklich immer geschäftig zu. Auf nahezu 2000qm wird geprobt, gebaut, eingeleuchtet, Management betrieben und was noch alles zu den vielseitigen Arbeitsbereichen eines Theaterunternehmens gehört. Und manchmal erscheinen einem diese 2000qm noch immer zu klein für all die Raum nehmenden Aktivitäten, zumal seit September 2001 das Theater über weitere 20, für ein Theater doch eher sehr außergewöhnliche junge Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verfügt. Es sind 20 sogenannte "nicht vermittelbare junge Frauen und Männer", denen mit einem Jahr Consol Theater eine Qualifizierungsmaßnahme zwischen Schule und Beruf rund um die Theaterbühne angeboten wird.

So lautet ein Leitsatz der Projektbroschüre STAGE: "Für Arbeit die Spaß macht, sind Disziplin, Teamwork und Verantwortung keine Fremdworte."

Wie alles anfing

Der Projektleiter Andre Wülfing rief mich Anfang 2001 am Bodensee an und fragte mich, ob ich Interesse hätte im Rahmen dieses Projektes "Philippinscher Stockkampfkunst und Rhythmusarbeit" anzubieten. Nach nur wenigen Sätzen hatte mich der Gelsenkirchener Künstler für die Arbeit gewonnen. Das Theater selbst ist mir seit vielen Jahren vertraut. Seit 9 Jahren kooperiere ich als Regisseurin mit dem Theater. Nun stand eine wahrhaftig neue Aufgabe auf meinem Jahresplan für November 2001.


Freude und Angstgefühle umspielten mein Herz. Ich unterrichte regelmäßig Stockkampfkunst seit 1997 und habe bis heute Schüler im Alter von 4-60 Jahren gehabt. Ich bin Schauspielerin, Regisseurin, Theater-/ Tanzpädagogin und Ausdruckstherapeutin und kenne seit 16 Jahren jenes aufregende Gefühl, das in Theaterkreisen wohl Lampenfieber genannt wird. Und doch möchte ich nicht auf dieses Gefühl verzichten, da es für mich ein Zeichen von Lebendigkeit und Wertschätzung gegenüber der Arbeit ist. Genau dieses Gefühl der Aufregung verspürte ich in meiner Magengegend.

Mutig sein bedeutet nicht, ohne Angst zu sein, sondern ist das "WIE ich mit der Angst umgehe". Genau das ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit und sollten auch die Jugendlichen bis zu unserer Abschlussaufführung kennen lernen.

Im Nachhinein kann ich sagen: Soviel Anstrengung mich diese Gruppe junger Menschen gekostet hat, so viel Freude brachte sie mir. Und ich möchte behaupten, dass es mit Sicherheit das Highlight im Jahre 2001 in meiner Arbeit war.

Die Arbeit beginnt

Ich betrat bepackt mit Stöcken, Rhythmusgeräten und "hoffentlich passender Musik" den Probenraum des Consol Theaters. Und seit diesem Tag weiß ich, dass auch "Punks" die besten Schüler sein können, wenn sie etwas für lohnenswert erachten. Es fanden sich sehr unterschiedliche junge Leute von Hip Hop bis Punk - um in den Lebensstilen oder auch Musikrichtungen zu sprechen - im Raum ein. Menschen, deren Äußeres meine Aufmerksamkeit auf sich zog bis hin zu eher unauffällig wirkende. Und wieder wurde ich darin bestätigt, dass man Vorurteile lieber im Koffer lassen und sich anstatt dessen neugierig auf etwas Neues einlassen sollte.

Nach einer Vorstellungsrunde ging es dann auch sogleich los. Erste Aufwärmbewegungen, erste Stockkampfschläge, erste rhythmische Tänze und erste Teamarbeit. Es waren 5 Tage und insgesamt etwa 15 Zeitstunden gemeinsamer Arbeit, die mich lachen und toben ließen. Ja - Sie haben richtig gehört. Lachen und toben. Nicht selten musste ich meine Stimme etwas lauter als normaler- weise in meinen Unterrichten üblich ertönen lassen, wenn die Kraft der Stöcke die jungen Leute in ihren Bann zog und ihre eigene Kraft und Aggression, ihr jugendliches Temperament mit ihnen durchging. Es hieß seine eigene Aggression in den Griff kriegen und konstruktiv nutzen, was nicht immer einfach war. Vielleicht noch mit einem "dicken Kopf" vom Vortag, oder weil es zuhause großen Krach gegeben hatte, oder vielleicht, weil man es einfach nicht gewöhnt war, diszipliniert zu sein, ging es immer wieder mit einzelnen durch, flogen Stöcke in die Ecke. Ich höre heute noch meine Worte, die ich zu einem liebenswürdigen "punkig wirkenden" jungen Mann sagte, als die Stöcke krachend gen Boden flogen: "Und atme einmal tief durch, nimm Deine Stöcke und komm zurück in den Kreis…" Und - er tat es. Und das war für mich das Größte.


Ich hatte den Eindruck, dass viele dieser jungen Leute wirkliches Interesse hatten; das, was ich ihnen anbot, lernen wollten. Sie wollten es wirklich - lernen. Nur ging es einigen so, dass sie das was sie wollten, einfach noch nicht umsetzen konnten. Motivation hatten sie genug und so hieß es "lediglich", Geduld bewahren und Disziplin üben. Einige von ihnen überraschten gleichzeitig mit einem gehörigen Maß Talent. Dieses Talent, diese Begabungen nicht als Rinnsal versickern zu lassen, es für ein Ziel im Leben einzusetzen, das galt es zu finden.

Fragen und Antworten

Ich glaube sagen zu können, dass einige dieser Jugendlichen mit dem Gefühl vertraut sind, von der Gesellschaft nicht wirklich gesehen zu werden und sich manches Mal von ihr ungerecht behandelt fühlen. Allzu schnell gerät man in jene "Schubladen" der Klassifizierung, die Menschen in sogenannte "Randgruppen" befördern. Wer sitzt schon gerne auf dem Sozialamt oder spricht dem Arbeitsamt vor? Ein politisches Problem, das vielen oftmals das Gefühl "des zweite Klasse-Menschen" hinterlässt.

Es ist mir persönlich in der Arbeit wichtig - egal um welche Zielgruppe es sich handelt - dass eine Atmosphäre des ehrlichen, wohlwollenden miteinander Umgehens vorherrschen kann. Gleichzeitig benötigt Kampfkunst klare Strukturen und Regeln. Hierbei spielen sogenannte "gesunde Grenzen" eine entscheidende Rolle.

Könnte ich also auch diesen Jugendlichen "gesunde Grenzen" anbieten? Könnte ich also auch diesen Jugendlichen "gesunde Grenzen" anbieten? Und könnten gesunde Grenzen ihre individuellen Persönlichkeiten bereichern, sogar zum Positiven hin verändern? Ich denke ja. Doch nur dann, wenn gemeinsame Auseinandersetzungen stattfänden und Konflikte als etwas Positives und deren Bewältigung als lohnenswert betrachtet werden könnten. Dies sehe ich als Schlüssel zur Teamarbeit, der in unserer Gesellschaft vielerorts leider jedoch abhanden gekommen zu sein scheint.


Wir führten eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen und Kämpfen und erprobten uns darin, wie sie zu lösen und wie man mit verschiedenen Wahrnehmungen und Wirklichkeiten in einer Gruppe umgehen kann. Toleranz und trotzdem meine eigenen Bedürfnisse nicht übersehen. Eine Gradwanderung zwischen Egozentrik und Selbstmissachtung. "Und wer bin ich eigentlich, … und was sind meine Qualitäten, … und woran möchte ich arbeiten…?" Fragen, deren Existenz es vielleicht erst einmal überhaupt zu entdecken galt. Antworten, die vielleicht bewusst gemacht werden wollten, im Verborgenen schlummerten und die doch der Schlüssel für die Beteiligung eines jeden am eigenen Glück sein könnten.

Was ich an ihnen schätze

Ich kann nicht genau sagen, warum ich diese jungen Leute so sehr mochte und noch mag. Vielleicht weil sie vor allem eines sind: authentisch. Sie sind ehrlich; ob eine aggressive Äußerung oder eine herzliche Umarmung. Sie sind ehrlich. Und ich bin der überzeugung, dass gerade junge Menschen, die in unserer heutigen Zeit mit Arbeitslosigkeit oder auch Drogenproblemen zu kämpfen haben - und ich habe in 5 Jahren Drogenarbeit viele dieser Problematiken erlebt - gerade diese Menschen sehr empfindsame Wesen sind und sehr offene Herzen haben, die leider in ihrem jungen Leben - so vermute ich - zu oft enttäuscht und verletzt wurden.

Einmal verletzt, tritt dann allzu gern ein Rettungsmechanismus auf: der wohl bekannte Schutzwall. Wer von uns kennt nicht mindestens einen Menschen aus seiner Umgebung, der wie ein Ritter im Harnisch steht. Oder wir selbst: Kennen wir nicht alle Momente, in denen ein Schutzwall eine anscheinend zu große Nähe zu einem Menschen vermeidet? Wie auch immer dieser Schutzwall geartet ist, ob durch intellektuelle Rede oder einen bösen Blick oder mit sonstigen Mitteln, leider hält er viele Menschen davon ab, den anderen zu achten. Oder ist es nur eine Andersartigkeit, die uns fremd erscheint, uns Angst macht? Die uns letztendlich aber dazu treibt, einen anderen abzulehnen, wenn nicht sogar zum "Randgruppenmitglied" zu erklären. Schade darum, denn diesen Menschen, die jene Jugendlichen lieber zu "Randgruppen" erklären, entgeht der Kontakt zu selbigen; der Kontakt zu jenen jungen Menschen, die eigentlich sehr sensibel sind und über ein hohes Maß kreativen Potentials verfügen, es oftmals nur leider nie gelernt haben zu nutzen.

Hurra Fehler!

So saßen wir beieinander und sprachen über Wünsche, Hoffnungen, Ziele und was jeder einzelne benötigen würde, um sein Ziel erreichen zu können. "Der Weg ist das Ziel." Und so durfte ich die jungen Leute eine Weile auf ihrem Weg begleiten.

Nach einer Woche zeigten sie vor Mitarbeitern des Theaters und einer Vertretung der Finanzunterstützer des Projekts, des Regionalsekretariats der EU, was sie gelernt hatten. Das Publikum zeigte sich begeistert. Die Betonung lag dabei auf "Hurra Fehler!" Eine außergewöhnliche Grundregel, die aber einmal verstanden zu enormer Leistungssteigerung führt und die letztendlich eine Regel "des Verzeihens" ist; sich selbst und anderen verzeihen. Und Fehler gab es natürlich nach nur einer Woche gemeinsamer Arbeit. Doch das Publikum schien zu verstehen, um was es eigentlich ging und dass das Gezeigte "mehr als genug" war.

Ein zweiter Workshop, eine zweite Aufführung

Und ich kam wieder. Eine weitere Woche im Mai 2002 diente der Vorbereitung auf eine kleine Aufführung vor offiziellem Publikum. Die Jungen Leute hatten sich weiterentwickelt. Es gab zwar enorme "Energielöcher" und einige waren mehr nach außen orientiert wegen anstehender Stellenvermittlung (was ja auch gut so war), aber ich konnte in ihrem Verhalten eine Veränderung erkennen. Dieses Mal flogen keine Stöcke in die Ecke.

Mein Auftrag lautete: "Bring die Gruppe wieder näher zusammen, arbeite an Zukunftsvisionen und mache eine Aufführung." Ich hatte einmal tief durchgeatmet: "Und das alles in 5 Tagen. Nun ja - Mal sehn, was sich machen lässt. Und zur Not: Hurra Fehler!" Gott sei Dank waren mein Auftraggeber und ich selbst auch und nicht zuletzt die Gruppe am Ende dieser 5 Tage zufrieden. So fand je eine Darbietung mit Trommelrhythmen, Stockkampfkunst und phillipinischen Tänzen auf dem Theatergelände vor und nach einer Musicalaufführung des Hauses statt. Auch hier gab es großen Applaus.

Was aber für mich viel wichtiger war: Dass alle, die zu diesem Zeitpunkt im Projekt waren, mitmachten und bis zur Aufführung durchhielten; selbst Leute, die sich sonst schwer taten am täglichen Training teilzunehmen oder die durch private Probleme, wie z.B. den Tod eines Familienmitgliedes, belastet waren. Und man zog sich gegenseitig durch, tröstete und animierte sich gegenseitig, bot Unterstützung an, wo der Mut noch zu bröckeln drohte.

Ein Ritual in bizarrer Kulisse

Was für mich noch beeindruckender war als die Aufführung, war ein Ritual, das ich sonst nur in Erwachsenenworkshops in schöner Naturumgebung

gehalten hatte. Als Generalprobe der "Feuerstöcke" (Stockkampf mit brennenden Stöcken) machten wir ein Ritual in einer Ruhr-Pott-Umgebung, die nicht besser hätte sein können für unsere Zwecke.

Am Abend, noch während im Theater "Hair" vor vollem Haus gespielt wurde, standen wir draußen im Regen. Als Kulisse diente uns ein beleuchteter Förderturm und als "Lagerfeuer" ein Feuer in einer  Blechtonne, die noch allzu verdächtig nach Chemie stank und uns mahnte, später ein paar Schlucke Milch anstatt ein Bier zu trinken. Dort an der brennenden Tonne trat jeder einzelne vor und las laut, manchmal unter Tränen, was er oder sie an alten Verhaltensweisen loslassen und was an neuen wachsen lassen wollte. Ein sehr berührender Moment, während dem der unterstützende Geist und die neu gefundenen Freundschaften dem einzelnen halfen seine persönliche Geschichte zu tragen. Dann entzündeten wir die selbstgebauten Feuerstöcke und probten die Möglichkeiten für die morgige Aufführung. Die Aufführung würde den neu gefundenen Zielen gewidmet werden.

Wir froren zwar in nasser Kleidung, doch in uns machte sich eine neue Wärme breit, die Wärme der Freundschaft. Und ich glaube behaupten zu können, dass Freundschaft und kollegiale Unterstützung das war, was mir in 16 Jahren künstlerischen Schaffens durch finanzielle Nöte und berufliche und private Krisen geholfen hat. Ein Wert, der in unserer schnelllebigen und konsumorientierten Zeit in den Hintergrund gerückt ist. Ein Wert, der auch von den Jugendlichen am Ende des Jahres mit dem Prädikat wertvoll belegt wurde.

Die Abschlussaufführung

Als ich im Sommer ein weiteres Mal wiederkam, war es weil ich mir die Abschlussaufführung anschauen wollte. Eine Aufführung, die mich sehr beeindruckt hat. Und nicht zu vergessen: Es gab etwas zu feiern. Ein Jahr gemeinsamer, manchmal auch harter Arbeit lag hinter ihnen. Auf die gegenseitige freundschaftliche Unterstützung wollten sie auch in Zukunft nicht mehr verzichten.

Nicht alle waren bis zum Schluss dabeigeblieben. Einige gingen andern Zielen nach, einige konnten in Lehrstellen vermittelt werden, einige waren noch auf der Suche. Doch ich glaube, dass es für alle ein außergewöhnliches Jahr mit außergewöhnlichen Erfahrungen sowohl für die Jugendlichen als auch für die beteiligten Künstler und Dozenten gewesen war. Hoffentlich Erfahrungen, von denen die jungen Leute auch in schweren Zeiten noch zähren werden können.

Warum mochten sie den Stockkampfkunst?

Warum meine Stockkampfkunst-Arbeit so gut bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des "STAGE-Projektes" ankam? Vielleicht weil es eine Arbeit ist, die gerade mit der Aggression arbeitet. Etwas, was junge Leute, vor allem wenn sie durch die Maschen der Lehr- und Arbeitsstellen-Netze fallen, kennen. Nicht umsonst war eines der bekanntesten Rhythmusmusical auf dem Hintergrund der Slums Amerikas entstanden: "Stomp". Auf Blechtrommeln schlagen, Krach machen, seiner Aggression Luft verschaffen und dann noch etwas Konstruktives, wenn nicht sogar Harmonisches daraus auf die Bühne bringen. Das möchte ich mit meiner Arbeit. Wie ich glaube, eine Sprache, die die Jugend versteht, vielleicht sogar dringend braucht. Die Stöcke helfen dabei, inneres Potential nach außen zu bringen. Allein das Aussehen vermittelt dem Betrachter Klarheit und Kraft. Qualitäten die ein jeder in sich finden kann, wie das Gold in der Tiefe der Berge; oder um in der Ruhrpottsprache zu sprechen, das "schwarze Gold", die Kohle, die in alten Tagen die Arbeiter einer Zeche ans Licht beförderten. Man muss nur ausdauernd genug graben, um zum Erfolg zu kommen.

Es geht weiter...

Ich meinerseits bin dankbar für die Zeit, die ich mit den "Stagies" verbringen durfte. Und es geht weiter. Schon wartet eine neue Gruppe auf Einlass ins Consol Theater, schon werden alte Konzepte überarbeitet und neue überdacht. Immer noch erhalte ich hin und wieder einen Brief, eine e-mail mit Nachrichten von einem ehemaligen Teilnehmer. Und es bleibt spannend im Leben der "Stagies". Nur - dass jetzt die alltägliche Welt die Bühne ist.

 


Reichenau, im Winter 2002

 

Fotos: Jürgen Diemer

Petra Eischeid ist Regisseurin/Schauspielerin, Ausdruckstherapeutin, Halprin Practitioner®

Petra Eischeid/LifeArt, Seestr. 44a, D-78479 Reichenau (Insel), Tel: 07534-998742,

info(at)lifeart-petra-eischeid.de, www.lifeart-petra-eischeid.de


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